Hinter dem Regenbogen
25 Jahre Queere Kultur
11. Dezember 2020
Den Weg queerer Kultur in den Mainstream und die daraus entstehenden Herausforderungen beschreibt unser Autor Danijel Cubelic. Der Religionswissenschaftler ist seit November 2020 neuer Leiter des Amts für Chancengleichheit in Heidelberg und koordinierte zuletzt die Bewerbung der Stadt als Teil des Rainbow Cities Networks.
Als vor kurzem das Queer Festival Heidelberg zu einer Diskussionsrunde auch trans*, lesbische und schwule Vertreter*innen von Bundeswehr und Polizei einludt, meldeten sich kritische Stimmen aus der lokalen lsbttiq+ Community. Ist ein queeres Festival der geeignete Raum, um diesen Institutionen ein Podium zu bieten? Befördert dies nicht die Normalisierung von Strukturen, gegen die queere Bewegungen lange Zeit rebelliert und aufbegehrt hatten? Queere Solidarität und queerpolitischer Aktivismus, so zeigt ein Blick auf die Geschichte von lsbttiq+ Emanzipationsbewegungen im 20. Jahrhundert, formte sich oft im Kontext des Widerstands gegen Polizeimissbrauch. Müsste es vor diesem Hintergrund nicht viel eher Aufgabe queerer Kulturarbeit sein, rassistische Netzwerke in Staat und Gesellschaft offen zu legen und radikalen institutionellen Wandel zu fordern? Verlieren queere kulturelle Räume ihr kritisches Potential?
Die Debatte ist dabei längst nicht nur auf Heidelberg beschränkt: die Frage nach queeren Gemeinsamkeiten und queeren Konflikten gewinnt mehr als 50 Jahre nach dem Stonewall-Aufstand in der New Yorker Christopher Street zunehmend an Bedeutung, das Erbe der daraus hervorgegangenen Emanzipationsbewegungen wird immer wieder aufs Neue ausgehandelt. Das Verhältnis von lsbttiq+ Bevölkerung und Institutionen wie Polizei, Militär oder organisierter Religion, die lange für die Repression und Unterdrückung sexueller und geschlechtlicher Minderheiten standen, ist in Veränderung begriffen. Alte Feindbilder bröckeln, teilweise. In Zeiten schwuler Minister und lesbischer CEOs scheint die Community im Mainstream angekommen zu sein. Auf den CSDs buhlen internationale Firmen um die Aufmerksamkeit kaufkräftiger Community-Mitglieder. Streamingplattformen wie Netflix bieten auch in Deutschland ein stetig wachsendes Angebot an Serien, die die Vielfalt der Community feiern. Schauspielerinnen wie Laverne Cox und Indya Moore repräsentieren eine neue Generation von trans* Schauspielerinnen, denen Serien wie Orange is the new Black oder Pose nie gekannte Sichtbarkeit ermöglichen. Im Pop nimmt die Vielfalt queerer künstlerischer Positionen genreübergreifend und stetig zu. Die sozialen Bewegungen nach Stonewall haben in den letzten Jahrzehnten die Visibilität queerer Lebensentwürfe weltweit radikal verändert. War queere Kultur traditionell Gegenkultur, so muss man sich heute fragen, was von ihrem Widerspruchscharakter übrigbleibt, wenn sich selbst Teen-Ikone Harry Styles auf dem Cover der amerikanischen Vogue in genderfluider Mode abbilden lässt.
Das englische Adjektiv „queer“, was sich mit „seltsam“ oder „fragwürdig“ übersetzen lässt, wurde lange Zeit als abwertende Bezeichnung für sexuelle und geschlechtliche Minderheiten verwendet. Im Zuge der Emanzipationsbewegung, vor allem ab den 1980er Jahren, eigneten sich queere Menschen den Begriff als Eigenbezeichnung an und deuteten diesen um. „Queer“ kann als Sammelbegriff für Subjektpositionen und Ansätze verstanden werden, die Heteronormativität und eine binäre Geschlechterordnung in Frage stellen. Queere theoretische und künstlerische Ansätze ermöglichten es, in post-identitärer Weise über soziale Differenz zu sprechen, indem sie die Wandelbarkeit von Identitäten in den Mittelpunkt rückten und nach den gesellschaftlichen Machtbeziehungen fragten, die Rollenbilder Frau oder Mann, homo und hetero erst hervorbringen. Eine besondere Rolle spielten hierfür die Analyse und Subvertierung ihrer Repräsentation und Reproduktion im Feld der Medien und Kultur. Queere und queerfeministische Forscher*innen, Künstler*innen, Filmer*innen und Performer*innen begannen, die Fortschreibung einer Natürlichkeit von Sexualität und Geschlecht zu verunsichern und hegemoniale Medienbilder zu dekonstruieren. Während sich an den Universitäten gender und queer studies ab den 1990er Jahren etablieren konnten und Publikationen wie Judith Butlers Gender Trouble weit über die Fachgrenzen hinaus Forschungsvorhaben beeinflusste, öffnen sich Museen und andere Kultureinrichtungen sehr langsam und erst in den letzten Jahren für dezidiert queere und queerfeministische Interventionen. Queere Kultur organisierte sich in Deutschland lange in eigenständigen subkulturellen, oft ehrenamtlich getragenen Räumen wie z.B. queeren Filmfestivals, Theaterprojekten, Chören oder Buchläden. Ebenso transformierten queere und queerfeministische Strömungen bereits bestehende ehemals schwule oder lesbische Communitystrukturen – wie das Schwule Museum (heute SMU) oder das Schwuz in Berlin.Musikalische und soziale Bewegungen wie House Music oder Ballroom Culture, die ihren Ursprung oft unter Schwarzen und Latinx Queers aller Sexualitäten und Geschlechter hatten, schufen nicht nur Räume sozialer Vergemeinschaftung jenseits der Regeln einer weißen, heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft, sondern queerten die Regeln von Pop, Tanz und Mode. Weltweit begannen Künstler*innen wie Keith Haring, Nan Goldin, Robert Mapplethorpe oder Wolfgang Tillmans, die Grenzen zwischen Kunst und Pop, Galerie und Dancefloor zu verwischen. Ehemals gegenkulturelle Räume stiegen zu ernst zu nehmenden Playern im kulturellen Feld auf. So ist es nur konsequent, dass das sowohl als Technoclub wie auch für seine Sex- und Fetischparties bekannte Berghain sich während der Coronapandemie zeitweise in eine Kunsthalle verwandelt hat.
Gleichzeitig haben queere Bewegungen erkannt, welche zentrale Funktion Museen, Theater oder Literaturhäuser für die Aushandlung des Selbstverständnisses einer Gesellschaft haben. So wichtig Communityräume sind: queere Themen müssen in öffentlichen Kultureinrichtungen aufgegriffen und sichtbar werden, Geschlechter- und Sexualnormen dort kritisch reflektiert und die Lebenswelten von lsbttiq+ Menschen als gleichberechtigter Teil unseres kulturellen Gedächtnisses anerkannt werden. Dies bedeutet auch ein Neudenken der Rolle dieser Institutionen und ihrer Interaktion mit der Zivilgesellschaft. Erste Ansätze wie die Ausstellung HOMOSEXUALITÄT_EN des Deutschen Historischen Museums kamen nur durch eine Kooperation mit dem immer noch größtenteils aus Spenden finanzierten SMU zu Stande. Ähnlich wie in der Aufarbeitung von institutionellem Rassismus braucht es partizipative Prozesse zwischen staatlichen Kultureinrichtungen und der Community. Queere Kulturprojekte wie das SMU oder das Queer Festival Heidelberg nehmen in diesen Konstellationen eine wichtige Brückenfunktion ein, um den Kulturbetrieb und Bildungsinstitutionen nachhaltig für queere Themen zu öffnen.
Dies gelingt allerdings nur dann, wenn sich queere Kulturprojekte selbst als wissensdemokratische und ästhetisch partizipative Räume verstehen, die Möglichkeiten für Selbstverständigung und Begegnung, aber auch für demokratisches Streiten ermöglichen. LSBTTIQ+ Communities sind im Umbruch begriffen. Debatten um lesbische Sichtbarkeit und die Lady*fest-Bewegung nahmen in den letzten Jahren die Rolle von feminist killjoys ernst, indem sie Sexismus thematisierten, der gerne auch in queeren Räumen unter den Teppich gekehrt wird. Angesichts der neugewonnenen Sichtbarkeit im Mainstream hinterfragen insbesondere trans*, inter, nicht-binäre und queerfeministische Aktivist*innen, welche Lebenswelten genau abgebildet und welche Körper repräsentiert werden. Eine neue Generation von Programmen und Festivals, die von queeren Migrant*innen, Geflüchteten und BIPOC gegründet oder kuratiert werden, wie das Projekt WE MOKHTALEFS am Kampnagel Hamburg, das AKS Festival Kopenhagen oder das Transition International Queer & Minorities Film Festival in Wien heben westliche Vorstellungen von Queerness aus ihrer Provinzialität heraus und entwerfen eine gemeinsame und geteilte queere Globalerzählung, die der Konstitution unserer dicht vernetzten Welt gerecht wird. In ihrer Kritik des gesellschaftlichen Status Quo wenden sich queere theoretische und künstlerische Positionen auch Nachhaltigkeitsdebatten zu. Wie der Denker Paul Preciado und die Künstlerin Anohni betonen, ermöglicht queere Kritik auch eine kritische Reflexion der Verbindungen dominanter heteronormativer Körper- und Familienbilder zu unserem zerstörerischen Umgang mit der Umwelt und Tierwelt sowie einer auf Wachstum, Ressourcenextraktion und konstante (Re-)produktion ausgelegten Wirtschaftsweise.
Auf die Pluralisierung von lsbttiq+ Communities dürfen queere Kulturräume nicht mit einem Versuch reagieren, Queerness identitär festzulegen. Stattdessen bietet sich ihnen die Chance, Spannungen und Ambiguitäten – sowohl innerhalb von lsbttiq+ Communities wie auch im Verhältnis dieser Communities zu staatlichen Institutionen und Einrichtungen – offenzulegen sowie Diskurse zur Formulierung gemeinsamer Anliegen und der Entwicklung neuer Taktiken im Kampf um Gleichberechtigung und Sichtbarkeit zu ermöglichen: inklusiv, international und intersektional. Denn der backlash gegen die neugewonnene Sichtbarkeit und menschenrechtlichen Fortschritte von lsbttiq+ Communities durch neue autoritär-nationalistische oder religiös-fundamentalistische Bewegungen weltweit ist längst im Gange. Queere Bewegungen müssen auf diese Bedrohungen solidarische Antworten finden und die potemkinschen Patriarchate eines Donald Trump, Viktor Orbán oder Recep Tayyip Erdoğan als solche entlarven. Der Theoretiker José Esteban Muñoz schreibt: „Queerness ist im Wesentlichen die Ablehnung der gegenwärtigen Realität und das Insistieren auf eine andere Welt.” Queere kulturelle Räume haben das Potential, als Plattformen zu dienen für eine Ausweitung gesellschaftlicher Normalitätszonen hin zu einer polymorphen Normalität und einer für alle Menschen besseren und furchtlosen Zukunft.
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