Immer wieder Farbe bekennen
25 Jahre Antidiskriminierungsarbeit / Evein Obulor
18. Dezember 2020
Die postmigrantische Gesellschaft als Realität und Chance anzuerkennen, ist eine der dringlichsten Aufgaben unserer Zeit. Rassismus abzulehnen reicht heute nicht mehr. Evein Obulor ist Gründerin des Migration Hub Heidelberg und erklärt, warum der Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus mit gründlicher Selbstreflexion beginnen muss.
Lieber Karlstorbahnhof, ich bin nur ein kleines bisschen älter als du. Deine und meine Auseinandersetzung mit Rassismus und Diskriminierung hat unterschiedliche Gründe. Ich bin eine Schwarze Frau, die sich beruflich mit diesen Themen beschäftigt. Du bist ein Kulturhaus, das Diskursräume zur Auseinandersetzung mit diesen Themen schaffen möchte. Da du es bist, der Geburtstag hat, möchte ich dein Jubiläum nutzen und über die Entwicklungen der letzten Jahre im Bereich Rassismus reflektieren und dir ein paar Wünsche mit auf den Weg geben.
Die Frage, ob es Rassismus gibt, sollte 2020 eigentlich nicht mehr im Zentrum der Debatte stehen. Das ständig Erzählen und Gefragt werden, wie sich Rassismus eigentlich anfühlt, um dessen Existenz zu beweisen, hat in Zeiten von Black Lives Matter trotzdem erneut einen Höhepunkt erlebt. Wie oft muss und musste ich durch Erzählen meiner persönlichen Erfahrungen beweisen, dass Rassismus tatsächlich auch hier in Deutschland existiert. Dabei sollte es doch längst um die Strukturen gehen, weg von den Erfahrungen einzelner von Rassismus betroffener Menschen hin zu Strategien für längst überfällige strukturelle Veränderung. Vorreiter*innen der Schwarzen Bewegung, Schwarze Frauen wie Katharina Oguntoye, Peggy Piesche und may ayim, beginnen schon in den 80er Jahren, diese Veränderungen einzufordern. Doch sie müssen erst Worte finden für ihre Erfahrungen. Für die Sichtbarkeit der Geschichte Schwarzer Menschen in Deutschland kämpfen. Sich finden und zusammenschließen zu einer Bewegung. Mit dem 1986 erschienen Buch „Farbe bekennen: afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“ schreiben Sie Schwarze deutsche Geschichte und schaffen mit dem Begriff „afro-deutsch“ Raum für ihre Lebensrealität. Auf ihren Schultern stehen wir.
Heute können wir weiter blicken, neue Perspektiven einnehmen und andere Räume erobern. Wir stellen andere Fragen. Um es mit den Worten der afro-deutschen Dichterin may ayim (1960 – 1996), die in diesem Jahr ihren 60. Geburtstag gefeiert hätte, auszudrücken „noch einen Schritt weitergehen, bis an den äußersten rand, wo meine schwestern sind, wo meine brüder stehen, wo unsere FREIHEIT beginnt” (may ayim – grenzenlos und unverschämt 1990). Wir möchten an postmigrantischen Visionen unserer Gesellschaft arbeiten. Ehrlich darüber nachdenken, wie antirassistisches Handeln aussehen kann, anstatt über die Existenz von Rassismus und unsere Zugehörigkeit zu diesem Land zu diskutieren.
Aktuell stehen, wie damals, Schwarze Frauen im Zentrum der Debatte über Rassismus in Deutschland. Um mit Tupoka Ogette, Alice Hasters, Dr. Natasha Kelly und Aminata Touré einige medial präsente Namen zu nennen. Durch deren Sichtbarkeit werden auch lange bestehende Ungleichheiten innerhalb BIPoC Communities sichtbar. Von denen die meisten weißen Menschen in Deutschland kaum etwas mitbekommen. Wir problematisieren, dass es auch bei uns, den von Rassismus Betroffenen, Unterschiede gibt. Da geht es einerseits um Rassismus durch die weiße Mehrheitsgesellschaft: Light-skinned BIPoC werden öfter auf Magazincovern gedruckt oder nach ihrer Meinung gefragt als BIPoC mit dunklerer Haut. Andererseits findet auch innerhalb unserer Community Ausgrenzung und Diskriminierung durch BIPoC mit hellerer Hautfarbe statt. Wir nennen das Colorism. Dieser verleiht aufgrund von eurozentrischen Schönheitsnormen manchen von uns mehr Privilegien als anderen. Darüber streiten wir und daran müssen wir arbeiten.
Nicht nur deshalb brauchen wir einen intersektionalen Antirassismus, der andere Diskriminierungsformen einschließt, der uns in eine postmigrantische Gesellschaft führt, der koloniale Kontinuitäten aufzeigt und an dem auch weiße, privilegierte Menschen als Verbündete aktiv mitarbeiten und Verantwortung wahrnehmen.
Das brauchen wir.
Trotzdem mahlen die Mühlen weiter sehr langsam. Die Ermordung von George Floyd hat auch in Deutschland erneut Aufmerksamkeit auf das Thema Rassismus geworfen, aber viele Diskussionen sind – wieder – an der Oberfläche stecken geblieben. Drehen sich im Kreis und verhindern strukturelle Veränderungen. Das klingt frustrierend. Ist es auch. Es ist frustrierend, macht wütend, traurig und zermürbt. Aber etwas gibt es, das mir Hoffnung macht und Kraft gibt. Viele junge rassifizierte Menschen haben keine Geduld mehr, um auf die notwendigen Veränderungen zu warten: sie fordern sie ein. Der Ton verändert sich. Nach dieser kurzen Reflexion über die Entwicklungen der antirassistischen Debatte in Deutschland bleibe ich mit vielen Fragen zurück:
Gibt es Räume für die postmigrantische Kultur Heidelbergs? Was kannst Du tun, damit ihre Vorkämpfer*innen gehört werden? Wer verhandelt in Heidelberg und wer sitzt nicht mit am Tisch? Müssen immer alle (mit)reden? Wem hören wir zu? Wem geben wir eine Bühne und wem nicht? Kann eine Kultureinrichtung überhaupt ein Verbündeter sein? All das schwirrt mir im Kopf herum und ich finde, Du, lieber Karlstorbahnhof, bist eigentlich ein ziemlich guter Ort, um über diese Fragen zu verhandeln.
In diesem Sinne wünsche ich dir alles Gute zum 25. Geburtstag und hoffe, dass du als Kulturhaus ein guter Verbündeter sein kannst und Raum für postmigrantische Visionen in Heidelberg eröffnest. Platz für Realitäten, die längst Teil unserer Stadt sind. Ich hoffe, dass du deine Augen und Ohren aufhältst für Rassismus und Diskriminierung, die unter deinem Dach reproduziert werden. Ich wünsche dir, dass du ehrlich anerkennst, dass auch in einem Kulturhaus Antirassismus nicht einfach so passiert, sondern du aktiv etwas dafür tun musst. Jeden Tag, auf allen Ebenen deines Wirkens. Das ist viel Arbeit, kostet viel Kraft und braucht Mut.
Aber ich bin mir sicher, dass du in 25 Jahren viel aus deinen Erfahrungen lernen konntest und dein Jubiläum samt all den Glückwünschen dich nochmal mit neuer Energie für die Zukunft versorgt hat, um einen Schritt weiterzugehen.
BIPoC
Black, Indigenous, People of Color. People of Color ist eine gesellschaftlich-politische Selbstbezeichnung von Personen, die sich als nicht-weiß definieren. Indigene Menschen sind die Nachfahren der Erstbesiedler*innen einer Region. Indigene und Schwarze Menschen werden besonders erwähnt, da sie von der weltweiten Kolonialgeschichte betroffen sind und deswegen andere Rassismuserfahrungen als andere PoC machen. – Say My Name
Ally / Verbündte:r
Eine privilegierte Person, die die jeweilige unterdrückte Gruppe unterstützt und Verantwortung dabei übernimmt, die repressiven Strukturen zu dekonstruieren. – Anne Bishop
Colorism
Colorism, bezeichnet eine Art von Rassismus, die sich speziell auf die Hautfarbe bezieht und bei der BIPoC mit dunklerer Haut nicht nur schwermarginalisiert sind, sondern ebenfalls unter Diskriminierung, Unterdrückung und Ausgrenzung durch andere BIPoC leiden, die mehr der eurozentrischen Norm entsprechen, in diesem Fall eine hellere Hautfarbe besitzen. Light-skinned BIPoC verfügen aufgrund von Colorism über Privilegien. – erklaermirmal
weiß sein
“Weiß / Weiße Deutsche wird oft in Rassismus-Debatten benutzt. Oft herrscht das Missverständnis, es ginge dabei um eine Hautfarbe. Tatsächlich ist mit weiß eine gesellschaftspolitische Norm und Machtposition gemeint. Der Begriff wird als Gegensatz zu BIPoC oder PoC verwendet. Dabei müssen sich weiße Menschen nicht selbst als weiß oder privilegiert fühlen. – ndm Glossar
Schwarz
Selbstgewählte Bezeichnung für schwarze Menschen. Schwarz zu sein ist keine Eigenschaft, sondern eine gesellschaftspolitische Position. Die Selbstbenennung “Schwarz” markiert bestimmte Lebensrealitäten in einer weiß dominierten Gesellschaft. – Noah Sow
Für unser Jubiläum haben wir verschiedene Fachleute um Rück- und Ausblicke auf die wichtigsten Karlstorbahnhof-Themenfelder von Antidiskriminierungsarbeit über Hip Hop bis Theater gebeten. Alle neun Artikel gibt es im Jubiläumsmagazin. Jetzt bestellen!