Indie(rock)’s not dead!
25 Jahre Indie
29. Dezember 2020
Die bunt zusammengewürfelte Indie-Szene hat in den letzten Jahren eine wahre Achterbahnfahrt hinter sich gebracht. Evelin Selau ist nicht nur Resident DJ bei der 1996 im Karlstorbahnhof gestarteten Reihe Rollercoaster, sondern blickt auch als ausgewiesene Konzertexpertin auf 25 turbulente Jahre zurück.
Als der Karlstorbahnhof 1995 seine Tore öffnete, war die Indie-Musikwelt im Wesentlichen von zwei Richtungen geprägt: Einerseits vom amerikanischen Alternative Rock, angetrieben durch den von Nirvana ausgelösten Grunge-Boom, der bereits existierenden Bands wie Sonic Youth, Pixies oder Dinosaur Jr. zu erneutem Auftrieb verhalf, aber auch zahlreiche Low-Fi-Bands wie Pavement und Sebadoh inspirierte. MTV und VIVA trugen ihren Part dazu bei, dass der gitarrenbasierte Alternative Rock, aber auch Subgenres wie Crossover und Nu Metal immer mehr einem Massenpublikum zugänglich gemacht und kommerzialisiert wurden. In Heidelberg zeigte sich die Popularität dieser Stilrichtungen damals mittwochs im Schwimmbadclub oder auf der nach dem gleichnamigen Film benannten Crossover-Party „Judgement Night“ in den Anfangsjahren des Karlstorbahnhofs. Andererseits entstand sozusagen als Gegenentwurf zum US-dominierten Alternative Rock der Britpop, der Mitte der Neunziger seinen Höhepunkt erreichte. Neben Bands wie Pulp und Suede prägte vor allem die medial inszenierte Konkurrenz zwischen Oasis und Blur die Szene. Oasis stand mit Pöbeleien und einem überzeichneten Habitus der Arbeiterklasse den gebildeten, aus der Mittelschicht stammenden Blur im „Battle of Britpop“ gegenüber. Die Welle schwappte von der Insel schließlich auch auf den Kontinent über, und nicht zuletzt inspiriert von den zahlreichen neuen Gitarrenbands aus UK startete im März 1996 die erste Rollercoaster Party im Karlstorbahnhof.
In den folgenden Jahren traten bereits existierende Bands wie The Verve und Radiohead sowie neue Bands wie Coldplay und The Libertines ins Rampenlicht. Gleichzeitig nahmen elektronische Einflüsse zu und es entstanden neue Stilrichtungen des Electronica wie Trip Hop oder Big Beat, verkörpert beispielsweise durch The Prodigy, Fatboy Slim oder den Chemical Brothers. Diese bereicherten und diversifizierten die Indie-Szene, Freunde von reinen Gitarrenbands mussten allerdings eine gewisse Durststrecke zurücklegen. Im Jahr 2001 rüttelten The Strokes aus New York die Musikwelt auf und verliehen der Rockmusik einen neuen Schub, der um die Mitte der Nullerjahre einen Höhepunkt erreichte. Die Bands der Stunde, die sogenannte Class of 2005, brachten eine aufsehenerregende Platte nach der anderen heraus und die Indie-Szene explodierte. Ralf Münch aka Red Snapper griff am DJ-Pult zusätzlich gerne auf die Hits des Britpops zurück, ich brachte als Evil Lynn Post Punk, amerikanischen Indierock und elektronische Ergänzungen ein. Auf der Tanzfläche war plötzlich alles möglich – hätte es also einen besseren Zeitpunkt für meinen Einstieg als DJ bei der Rollercoaster Party geben können? Die monatliche Reihe im Saal des Karlstorbahnhofs war ein Fixpunkt des Heidelberger Nachtlebens, und mit dem Chop Suey Club im KlubK kam noch eine weitere Party hinzu, welche den deutschsprachigen Indie sowie Indietronics mehr in den Vordergrund rückte.
Der Hype dauerte einige Jahre an und bescherte uns jeden Monat volle Tanzflächen mit bestens gelaunten Menschen, die Hits von Bloc Party, Franz Ferdinand, den Killers, Arctic Monkeys, The Kooks oder Kaiser Chiefs mitgrölten. Ein persönliches Highlight war natürlich unser 15-jähriges Rollercoaster Jubiläum im Jahre 2011. Dass eine Partyreihe nach so langer Zeit noch auf vollen Touren läuft, ist etwas ganz Besonderes. Danach zeichnete sich aber trotz vielversprechender neuer Acts wie den Foals, Alt-J, Two Door Cinema Club oder The Vaccines und trotz erfolgreicher Neuveröffentlichungen von etablierten Indiegrößen langsam eine Hinwendung zu ruhigeren Subgenres des Indie im Bereich Singer/Songwriter und Folk ab. Läutete diese Tendenz nun das Ende des Indierock ein? Vor allem in den Clubs hatten die Entwicklungen nach und nach einen Bedeutungsverlust des Indie zur Folge, da die aufkommenden Stilrichtungen nicht wirklich für die Tanzfläche geeignet waren und heute die überwiegende Mehrheit den Discobesuch mit elektronischer Musik assoziiert. Erschwerend kam in Studentenstädten wie Heidelberg die Umstellung auf straffer organisierte Bachelorstudiengänge hinzu, die das Ausgehverhalten extrem verändert hat. Ein weiterer wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang dürfte die in den letzten Jahren zunehmende Bedeutung von Streaming-Diensten sein. Statt sich mit bestimmten Bands und ganzen Alben zu befassen, scheint die Frage nach den besten Playlists an Priorität zu gewinnen. Partyreihen wie Rollercoaster verdankten ihren Erfolg nicht zuletzt auch ihrer Funktion als Treffpunkt für Gleichgesinnte sowie als Forum zum Austausch über Musik; wir DJs machten ähnlich wie im Radio Neuvorschläge und bezogen das Feedback des Publikums in die Programmgestaltung ein. Natürlich gibt es auch heute noch eine Indieszene, doch die tauscht sich mittlerweile eher dezentral über das Internet aus oder trifft sich in kleineren Musikbars und Kneipen in den Metropolen.
Früher hatten gesellschaftliche und kulturelle Abgrenzungen zu anderen sozialen Gruppierungen und Musikgenres einen viel größeren Stellenwert. Auch und vielleicht gerade im Indie-Bereich wurden durch das Miteinbeziehen von Randbereichen anderer Musikstile die Grenzen brüchiger und fließender, was neben der Bedeutungserweiterung des Indie-Begriffs aber auch dessen Lebendigkeit gewährleistet. Unabhängig vom Kriterium der Tanzbarkeit können Ralf und ich heute in unserer monatlichen Radiosendung bei Bermudafunk stets interessante Neuerscheinungen aus den unterschiedlichsten Bereichen vorstellen.
Indie is not dead – but what about Indie Rock?
Aber heißt das, dass der klassische Indie Rock von der Bildfläche verschwunden ist? Schaut man sich die Line-Ups von kleinen und großen Festivals in den letzten Jahren an, stellt man fest, dass immer noch eine erhebliche Anzahl von Headlinern aus der goldenen Zeit stammt oder ihrem Sound nacheifert. Daneben gibt es eine Fülle von Newcomerbands, Local Heroes und internationalen Geheimtipps, die sich bemerkbar machen. Die Themenschwerpunkte werden vielfältiger und politischer, gesellschaftlich relevante Fragen zu Themen wie Gender oder Herkunft werden nicht nur in der Musik in Angriff genommen, auch in der Besetzung der Bands gibt es Veränderungen. Früher waren im Indie weiße, heterosexuelle Männer bis auf wenige Ausnahmen vorherrschend, heute sorgen auffällig viele Frauenbands wie Wolf Alice, Priests oder auch Dream Wife mit feministischen Tendenzen und Anleihen aus der Kultur der Riot Girls für frischen Input. Sozialkritische Bands wie Sleaford Mods, Shame, Fontaines D.C. oder die Idles, deren Medienpräsenz seit ihrem Konzert im Karlstorbahnhof vor drei Jahren stetig zugenommen hat und die sich als “Angry Band” bezeichnen, greifen wieder stärker auf die wütende Energie des Punk zurück. Durch diese Entwicklungen kehrt die Indieszene immer stärker zu ihren Wurzeln als unabhängige Alternative zum Mainstream zurück, dem sie dank ihrer außerordentlichen Popularität für einige Jahre angehörte. Diese Entwicklung hat durchaus auch eine heilsame Wirkung und kann neue Impulse hervorbringen. Insgesamt illustrieren die Entwicklungen das inhärente Dilemma der Independent Musik: Stößt sie auf eine sehr breite Resonanz, wird ihr vorgeworfen, sich dem Mainstream anzubiedern. Umgekehrt wird ihr Ende prophezeit, wenn ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit zu sehr abnimmt. Aktuell kann man angesichts der gesellschaftlichen Brüche, die überall auf der Welt beobachtet werden können, davon ausgehen, dass sich als Antwort darauf auch musikalisch etwas zusammenbraut. Vielleicht resultiert dies früher oder später in einer neuen Explosion des Indierock, die auch wieder ihren Weg auf die Tanzflächen findet.
Für unser Jubiläum haben wir verschiedene Fachleute um Rück- und Ausblicke auf die wichtigsten Karlstorbahnhof-Themenfelder von Antidiskriminierungsarbeit über Hip Hop bis Theater gebeten. Alle neun Artikel gibt es im Jubiläumsmagazin. Jetzt bestellen!