Ohne Helm und Handbremse
5UND20 Perspektiven / Götz Gramlich
21. Dezember 2020
In den letzten 25 Jahren habe ich unzählige Nächte im Karlstorbahnhof verbracht und unzählige Plakate für die unterschiedlichsten Veranstaltungen des Hauses gestaltet. Das ist ein ganzer Strom von Erinnerungen, den ich im Kopf erst mal sortieren muss. Gerade in den Anfangsjahren ist vieles unvollständig, da ging es auch mal wild zu. Ich bin mir sicher, dass ich mehrmals zurecht des Clubs verwiesen wurde. Wenn ich jetzt Sonntags mit meinen Kids beim Grüffelo sitze, kommen vereinzelt wieder Bilder hoch und ich muss schmunzeln.
Die Sache mit den Plakaten begann 1999, die Gestaltung für das erste Enjoy Jazz Festival war mein Vordiplom. Rainer Kern legte damals noch bei der Herbs & Spices Jungle auf, auch dabei und für Special Events wie das legendäre Gastspiel von Squarepusher durfte ich mich kreativ austoben. 2004 habe ich meine erste größere Auszeichnung bekommen, der Entwurf für die Russendisko wurde als eins der 100 besten Plakate des Jahres prämiert. Im Backstage floss der Wodka in Strömen, die Erinnerung ist nebulös. Ganz genau erinnere ich mich aber noch daran, dass mir der große Erobique nach einem seiner Konzerte an der Bar einen Schnaps ausgab.
Im vergangenen Jahr durfte ich für den Karlstorbahnhof eine neue visuelle Identität entwickeln, mit der das Haus den Umzug in die Südstadt in Angriff nehmen wird. Für mich war das nicht nur ein Riesenprojekt, sondern auch eine Herzensangelegenheit. Wie ich verdanken viele kreative Menschen aus Heidelberg und Umgebung dem Karlstorbahnhof Inspiration, berufliche Erfahrungen, Kontakte und Arbeit. Denn nicht nur in Sachen Veranstaltungsprogramm ist das Team stets offen für alles, auch im grafischen Bereich werden immer wieder experimentierfreudige Talente gefördert und neuen Ideen Raum gegeben.
Die Metropolregion Rhein-Neckar wird in Sachen Kreativwirtschaft oder Clubkultur niemals konkurrieren können mit Weltstädten wie Berlin oder London. Um aber den Anschluss nicht zu verlieren und der Jugend eine Brücke in die große weite Welt zu bauen, brauchen wir Inseln, die mit dem internationalen Geschehen vernetzt sind. Natürlich werden viele junge Menschen trotzdem Heidelberg verlassen, aber einige werden auch wie ich hier bleiben oder nach ein paar Jahren mit einem reichen Erfahrungsschatz zurück kehren. Der Karlstorbahnhof war in den letzten 25 Jahren einer dieser Orte und ist auch dank der mutigen Entscheidung für einen Neuanfang im Süden auf dem besten Wege, diese wichtige Funktion auch in den nächsten 25 Jahren einzunehmen.
Danke, dass ich mitfeiern und mitgestalten durfte, dass ich nie Hausverbot bekommen habe und dass es auch in schweren Zeiten immer weiter geht. Danke für 25 Jahre kulturelle Achterbahnfahrt ohne Helm und Handbremse!
Götz Gramlich ist ein international renommierter Grafikdesigner aus Heidelberg und hat unzählige Plakate für den Karlstorbahnhof gestaltet.
Für unser Jubiläum haben wir Erinnerungen, Einblicke und Ausblicke gesammelt von Menschen, die dem Karlstorbahnhof verbunden sind. Alle Texte gibt es im Jubiläumsmagazin. Jetzt bestellen!